Claudia Jäger – schüchtern war gestern

Text: Anja Martin, Fotos: Maximiliam Gödecke
Nach 15 Jahren ohne festen Job arbeitet Claudia Jäger heute Vollzeit in einer Göttinger Kita. Was sie gebremst hatte: Ihr Berufsabschluss war nichts wert. Und sie traute sich nichts zu.

Wie jeden Tag ist Claudia Jäger heute schon seit vier Uhr wach, denn da klingeln ihre drei Wecker. Sie steht dann nicht gleich auf. Sie lässt sich Zeit. Fürs Duschen. Um mindestens zwei Tassen Kaffee zu trinken. Nachrichten zu schauen. Teller vom Abend in die Spülmaschine räumen. Ihr Essen für die Frühstückspause richten. Denn sie weiß: „Ich brauche einen ruhigen Start in den Tag.“ Wenn die 48 Jahre alte Sozialassistentin später die Tür zur Kita aufdrückt und vorbei an den sauber aufgereihten Gummistiefeln die verschiedenfarbigen Linoleumstufen ins Obergeschoss nimmt, zum Gruppenraum der Füchse, ist zuhause bereits alles in bester Ordnung. Außer Staubsaugen. Das würde die Nachbarn stören. Nimmt sie an.

Immer für die Kinder da, egal wie es ihr geht

Claudia Jäger sieht aus wie jemand, zu dem Kinder gern kommen. Wie jemand, der ein großes Herz hat. Und Kuschelkompetenz. Im runden Gesicht trägt sie eine randlose Brille, die glatten, dunklen Haare kinnlang. Seitenscheitel, kein Pony. Wenn sie sich bückt, um ein Spielzeug aufzuheben, schwingen die Haare vors Gesicht. Weswegen sie sie bei der Arbeit meist hinter die Ohren klemmt. Alles an ihr ist unkompliziert: Jeans, blaues Top, Anorak, bequeme Schuhe, keine Schminke. Sie will nicht auffallen, sie will sich wohlfühlen. Aber vor allem für die Kinder da sein.

Sie betreut in der Kita Kreuz und Quer ausschließlich die Krippenkinder. Sie weiß genau, dass ihr das am meisten liegt. „Betütteln macht mir Spaß“, sagt sie mit leuchtenden Augen. „Die Großen sind schon so eigenständig.“ Kinder zu betreuen war schon immer der einzige Beruf, den sie sich vorstellen konnte. „Außer in der neunten Klasse, da wollte ich mal kurzzeitig Pferdewirtin werden“, erzählt sie, und lächelt. Mit Anfang Zwanzig machte die in Göttingen Geborene eine Ausbildung zur Kinderpflegerin. Diese Qualifikation genügte damals kaum für die Arbeit in einer Kita – entsprechend fand sie keine Anstellung, brauchte irgendwann finanzielle Unterstützung.

Doch auch während der Arbeitslosigkeit war sie immer beschäftigt: Half ihrer Schwester, den Neffen großzuziehen, die Hunde zu betreuen. Startete früh in den Tag. „Manche haben so einen Trott, stehen spät auf. Ich habe nie rumgegammelt, ich war immer aktiv.“ Sie jobbte zudem als Honorarkraft in der Hortbetreuung. „Die haben auch spontan angerufen. Morgens um acht etwa: Kannst du um zwölf bei der oder der Schule sein? Dann schlug ihre Fallmanagerin beim Jobcenter einen 1-Euro-Job in einer Krippe vor. „Ich habe sofort ja gesagt, auch wenn manche meinen, es lohnt sich nicht, für so wenig Geld zu arbeiten.“ Claudia Jäger war begeistert: „Das war voll mein Ding.“ Vorlesen, wickeln, trösten. Und Teil eines Teams sein, dazugehören. Sie machte aus einem halben Jahr ein ganzes. Und bekam ein tolles Zeugnis. Aber noch keinen festen Job, nirgends. 

„Sie hat sich immer beworben, nie den Mut sinken lassen, wollte so gern ihr eigenes Geld verdienen“, erinnert sich anerkennend ihre Fallmanagerin, Sigrid Schatzberg. Aber den Kitas mangelte es zu der Zeit noch nicht an Betreuungskräften, Claudia Jäger aber weiterhin an einer attraktiven Qualifikation. Der nächste Vorschlag war folgerichtig: Wie wäre es mit einer Ausbildung zur Sozialassistentin? Dann könnte sie hoffentlich bald als Unterstützung von Erziehern und Erzieherinnen in Kitas unterkommen. „Ich wollte sie überzeugen, dass sie den Schritt wagt, trotz Alter. Wieder lernen.“ Damals war sie fast Vierzig, ihre Mitschüler und Mitschülerinnen eine andere Generation. 

Der Unterricht fand abends statt, tätigkeitsbegleitend, wegen des Honorarjobs. Eineinhalb Jahre lang Verstehen und Konzentrieren. Tests, Klausuren und Prüfungen. „Sie hat sich da richtig durchgebissen“, lobt Schatzberg. Und schaffte den Abschluss.

Sie scheiterte, weil sie nicht an sich glaubte

Doch es gab noch ein anderes Problem: „Ich war anfangs schockiert, wie unsicher sie war“, erinnert sich Schatzberg an die Zeit vor zwölf Jahren, als Claudia Jäger zu ihrem Fall wurde. „Der Umgang mit Behörden hat ihr Angst gemacht. Es war viel Arbeit, erst Mal das Vertrauen herzustellen.“ Das war es auch, was sie bei Bewerbungsgesprächen scheitern ließ. „Die Kinder mochten sie“, erinnert sich Schatzberg, die überzeugt war, die geborene Sozialassistentin vor sich sitzen zu haben – wegen der ruhigen Art, dem aufmerksamen Beobachten, der Fähigkeit sich anzubieten statt aufzudrängen. „Aber die Rückmeldung der Arbeitgeber war: Sie sind zu still!“

In einer weiteren Maßnahme wurde Claudia Jäger nicht nur gecoacht, sie konnte auch den Führerschein machen. Natürlich erhöhte das die Chancen, auch außerhalb der Stadt, wo die Busse selten fahren, einen Arbeitsplatz zu finden, aber es bedeutete auch einen Schub für ihr Selbstbewusstsein. Doch es hielt nicht lange vor: „Als ich mein erstes Auto gekauft hatte, war es eine Katastrophe“, gibt Claudia Jäger ehrlich zu. „Ich habe jedes Mal gezittert beim Fahren. Meine Schwester musste mich richtig zwingen, das Auto zu benutzen. Sonst hätte ich lieber den Bus genommen.“ Einen Fehlkauf beim Shopping hätte sie eher in den Schrank gelegt, statt ihn umzutauschen. Wenn andere gelacht oder geredet haben, dachte sie, es geht um sie. Eine Psychotherapie half, dazu kam der entscheidende Tipp einer Dozentin, dass in der evangelischen Kita Kreuz und Quer Mitarbeiterinnen gesucht würden. Sie hospitierte und war bei der spontanen Zusage für den 20-Stunden-Job so verdattert, dass sie sich erst mal Bedenkzeit ausbat. Das war vor sechs Jahren.

Die Sozialassistentin Claudia Jäger bereitet liebevoll die Betten für den Mittagsschlaf der Krippenkinder vor.

Man kann sich all das kaum noch vorstellen, wenn Claudia Jäger souverän mit ihrem knallroten Kleinwagen in Göttingen zur Arbeit fährt. Wenn sie in Dienstbesprechungen die Belange der Kinder vertritt. Wenn sie Entwicklungsgespräche führt, zurzeit sogar per Zoom. Und Eltern unter der Tür auch mal sanft die Stirn bietet. Das sind Dinge, die sie lernen musste. Sie weiß, dass sie eine 180-Grad-Wendung hingelegt hat und ist stolz darauf, hart an sich gearbeitet zu haben. „Ich fühle mich viel mehr wert“, sagt sie heute. „Abgesehen davon, dass ich mehr Geld habe und unabhängig bin und nicht um jedes bisschen bitten muss.“ Weil sie inzwischen Vollzeit arbeitet, konnte sie sich sogar ein quasi neues Auto leisten. Und sie denkt darüber nach, ob sie endlich Reiten lernen soll, nachdem sie als Jugendliche nur das Putzzeug, nicht die Zügel in der Hand hatte. 

Wieviel in den letzten Jahren passiert ist, beweist vielleicht am besten die verdutzte Reaktion ihrer aktuellen Kitaleiterin, die vor drei Jahren in die Einrichtung kam: „Arbeitslos? Claudia?“ Für sie war die Sozialassistentin aus der Fuchsgruppe gefühlt schon immer da, gehörte zum Inventar.